Wenn Flucht der einzige Weg zurück zu sich selbst ist – Ein Roman über echte Trauer

Es gibt Bücher, die einen sofort packen, weil sie genau das tun, was Literatur am besten kann: Sie zeigen uns Menschen in ihrer ganzen, ungeschönten Wahrheit. Der Roman über Ida, die mit nichts als einem verschrammten Koffer und einem MacBook ihr Leben hinter sich lässt, ist so ein Buch.

Trauer ohne Therapie-Sprech

Was mich als Lektorin sofort fasziniert hat, ist die Art, wie hier Trauer erzählt wird. Keine wohlmeinenden Phrasen über "Verarbeitung" oder "Loslassen". Stattdessen eine junge Frau, die es nicht mal zur Beerdigung ihrer eigenen Mutter geschafft hat und jetzt mit einem Klumpen aus Wut, Trauer und Schuld durch die Welt läuft.

Ida ist keine Heldin, mit der man sofort sympathisiert. Sie ist manchmal richtig unausstehlich, verletzt Menschen, die ihr helfen wollen, und macht Entscheidungen, die einen zum Kopfschütteln bringen. Aber genau das macht sie so real. Menschen in tiefer Trauer sind nun mal nicht immer liebenswert – sie sind verletzt und verletzen andere.

Rügen als emotionaler Resonanzraum

Die Autorin nutzt die Insel Rügen geschickt als mehr als nur Kulisse. Die Landschaft wird zum emotionalen Resonanzraum, ohne dabei kitschig oder esoterisch zu werden. Rügen ist nicht der mystische Heilungsort aus dem Wellness-Ratgeber, sondern einfach ein Platz, wo Ida endlich Raum findet – für ihre Wut, ihre Trauer, ihre Verwirrung.

Die Weite der Landschaft spiegelt wider, was Ida braucht: Platz zum Atmen, nachdem sie sich jahrelang in zu engen Verhältnissen eingequetscht gefühlt hat.

Menschen, die helfen, ohne zu missionieren

Besonders stark sind die Nebenfiguren. Knut und Marianne könnten leicht zu den typischen "weisen Mentoren" werden, die verletzten Protagonisten den Weg weisen. Stattdessen sind sie einfach Menschen, die da sind. Punkt. Keine große Gesten, keine therapeutischen Gespräche beim Sonnenuntergang. Nur morgendliche Aufbackbrötchen, Skip-Bo am Nachmittag und die stille Übereinkunft, dass jeder seine Geschichten hat.

Als Autorin bewundere ich, wie organisch diese Heilung erzählt wird. Die Rituale entstehen wie von selbst: das gemeinsame Frühstück, die Arbeit in der Kneipe, die Walkingrunden mit Marianne. Niemand redet über Heilung – sie passiert einfach, in kleinen, alltäglichen Momenten.

Liebe ist kein Allheilmittel

Auch die Liebesgeschichte mit Leif funktioniert, weil sie nicht als Lösung für Idas Probleme inszeniert wird. Beide sind beschädigt, beide müssen lernen, mit ihren Verletzungen zu leben. Ihre Beziehung entwickelt sich langsam, tastend, mit Rückschlägen. Real eben.

Die Autorin tappt nicht in die Falle, Liebe als emotionales Pflaster zu verkaufen. Stattdessen zeigt sie zwei Menschen, die lernen müssen, dass man auch mit Narben liebenswert sein kann.

Der Mut zur Ungewissheit

Was den Roman für mich als Content Creator besonders wertvoll macht, ist sein Mut zur Ungewissheit. Hier werden keine einfachen Antworten geliefert, keine Drei-Punkte-Pläne für den Umgang mit Verlust. Familiengeschichten sind kompliziert, Schuld lässt sich nicht einfach auflösen, und manchmal versteht man erst, wo man hingehört, nachdem man sehr weit weggelaufen ist.

Der erneute Schicksalsschlag am Ende hätte das ganze Konstrukt zum Einsturz bringen können. Stattdessen zeigt er etwas Wichtiges: Heilung ist kein linearer Prozess mit einem definierten Endpunkt. Leben bedeutet immer wieder neu anfangen müssen, auch wenn man dachte, man hätte endlich festen Boden unter den Füßen.

Warum wir solche Bücher brauchen

In einer Zeit, in der uns Social Media täglich mit optimierten Versionen von Trauer und Heilung bombardiert, brauchen wir Geschichten wie diese. Geschichten, die zeigen, dass es okay ist, manchmal richtig schlecht im Abschiednehmen zu sein. Dass Flucht nicht immer Feigheit bedeutet, sondern manchmal der einzige Weg ist, um überhaupt weitermachen zu können.

Dieser Roman wird mich noch lange beschäftigen – nicht wegen der Antworten, die er gibt, sondern wegen der menschlichen Fragen, die er stellt. Und vielleicht ist das ja das Wichtigste, was Literatur leisten kann: uns zeigen, dass wir mit unseren komplizierten Gefühlen nicht allein sind.

Ein Buch für alle, die echte Geschichten über echte Menschen lesen wollen – auch wenn diese Menschen manchmal schwer auszuhalten sind. Gerade dann.

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