Wenn das Schwimmbecken zur Metapher wird – Warum "22 Bahnen" mehr ist als nur ein Coming-of-Age-Roman
Es gibt Bücher, die liest man und denkt: "Schön." Und dann gibt es Bücher wie "22 Bahnen" von Caroline Wahl, die einen packen und nicht mehr loslassen, weil sie das Leben in seiner ganzen widersprüchlichen Realität einfangen.
Eine Geschichte, die unter die Haut geht
Tilda ist 22 und lebt ein Leben, das sich anfühlt wie ein zu eng geschnittenes Kleid. Während ihre Freunde in Amsterdam oder Berlin ihre Zwanziger auskosten, sitzt sie in einer Kleinstadt fest, die sie hasst. Supermarktkasse, Studium, kleine Schwester Ida, alkoholkranke Mutter – ihr Alltag ist ein Hamsterrad aus Verpflichtungen. Klingt nach klassischem Social Drama? Ist es auch. Aber Caroline Wahl erzählt diese Geschichte mit einer Präzision und Ehrlichkeit, die sie weit über das Genre hinaushebt.
Die Kunst der alltäglichen Metapher
Was mich als Lektorin sofort gefesselt hat: Wahl versteht es, aus banalen Details große Erzählungen zu machen. Die 22 Bahnen, die Tilda täglich im Schwimmbad zieht, werden zum Herzschlag des Romans. Wiederholung als Überlebensstrategie, aber auch als Gefängnis. Routine, die rettet und gleichzeitig einengt. Diese Metapher ist nicht aufgesetzt, sie wächst organisch aus der Geschichte heraus.
Genau hier zeigt sich handwerkliches Können: Wahl muss uns nicht erklären, was diese Bahnen bedeuten. Sie lässt sie wirken, lässt uns als Leser die Verbindungen ziehen. Das ist echtes Vertrauen in die eigene Erzählung und in die Intelligenz der Leserschaft.
Realismus ohne Romantisierung
Tilda ist keine dieser "starken jungen Frauen", die alles wegstecken und dabei strahlend lächeln. Sie hadert, sie wird unfair, sie macht Fehler. Ihre Stärke entwickelt sich nicht aus natürlicher Begabung, sondern aus purer Notwendigkeit. Das macht sie menschlich und glaubwürdig.
Besonders beeindruckend finde ich, wie Wahl die Ambivalenz von Familienbindungen darstellt. Tilda liebt ihre kleine Schwester Ida abgöttisch – aber diese Liebe ist gleichzeitig ihre Fessel. Die Mutter ist Quelle der Frustration und Objekt des Mitleids zugleich. Diese Widersprüche glättet Wahl nicht, sie lässt sie in ihrer ganzen Komplexität stehen. Das Leben ist nun mal nicht schwarz-weiß, und Literatur sollte das auch nicht vorgeben.
Viktor und die Macht der Erinnerung
Wenn Viktor auftaucht, der große Bruder ihres ehemaligen Freundes Ivan, hätte die Geschichte leicht in Richtung Liebesroman abdriften können. Tut sie aber nicht. Viktor ist nicht der Retter in der Not, sondern jemand, der Tilda an eine Zeit erinnert, als ihre Welt noch andere Möglichkeiten bereithielt.
Die Szenen zwischen den beiden im Schwimmbad haben eine unterschwellige Spannung, die mehr über unausgesprochene Sehnsüchte erzählt als jede explizite Romanzen-Szene. Hier zeigt sich wieder Wahls Zurückhaltung: Sie vertraut darauf, dass wir zwischen den Zeilen lesen können.
Sprache, die trifft
Sprachlich bewegt sich Wahl geschickt zwischen Nüchternheit und Poesie. Sie vermeidet das Pathos, das solchen Geschichten oft schadet, findet aber trotzdem Bilder, die haften bleiben. Das "traurigste Haus der Fröhlichstraße" – allein dieser Kontrast erzählt schon eine ganze Geschichte über die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität.
Ein Ende, das Mut macht
Das Ende von "22 Bahnen" ist weder glücklich noch tragisch – es ist offen und ehrlich, wie das Leben eben auch ist. Wahl serviert keine fertigen Lösungen, sondern zeigt Wege auf. Das ist viel mutiger, als alles in Watte zu packen oder komplett hoffnungslos zu enden.
Warum dieses Buch wichtig ist
"22 Bahnen" ist mehr als ein Coming-of-Age-Roman. Es ist ein Buch über das Erwachsenwerden unter Umständen, die eigentlich Erwachsene überfordern würden. Es zeigt, wie Menschen trotz widriger Umstände ihre Würde behalten können, ohne dabei zu beschönigen, was solche Umstände kosten.
In einer Zeit, in der Social Media uns perfekte Leben vorgaukelt, ist so eine ehrliche Erzählung ein Geschenk. Wahl zeigt: Es ist okay, nicht alles im Griff zu haben. Es ist okay, zu kämpfen. Es ist okay, manchmal unfair zu sein. Menschlichkeit bedeutet nicht Perfektion.
Ein Debüt, das Lust auf mehr macht
Caroline Wahl hat mit "22 Bahnen" einen Roman geschrieben, der nachhallt – nicht weil er spektakulär wäre, sondern weil er zutiefst menschlich ist. Als Lektorin bin ich beeindruckt von der handwerklichen Sicherheit, als Leserin bin ich neugierig auf ihre nächsten Bücher.
Manchmal schwimmt man eben seine Bahnen, auch wenn das Becken zu klein erscheint. Manchmal ist das schon Widerstand genug.
"22 Bahnen" von Caroline Wahl ist im DuMont Verlag erschienen. Ein Debüt, das zeigt: Deutsche Gegenwartsliteratur kann packend, ehrlich und relevant sein – ohne dabei wichtigtuerisch zu werden.