Wenn Märchen zu Dark Romance werden: Warum wir mehr von unseren Neuerzählungen verlangen sollten

Ich habe gerade wieder ein Buch aus der Hand gelegt, das mich frustriert zurücklässt. Eine weitere "düstere" Märchen-Adaption, die ihre interessante Prämisse völlig verschenkt. Und während ich da sitze und mich ärgere, wird mir klar: Das ist kein Einzelfall. Es ist ein Symptom für ein größeres Problem in der aktuellen Buchlandschaft.

Der Dark Romance-Tsunami

Märchen-Retellings sind gerade überall. Besonders die "dark" Varianten überfluten förmlich den Markt. Und ich verstehe den Reiz – klassische Geschichten neu zu erzählen, ihre dunklen Seiten zu erkunden, das kann brillant sein. Aber was ich viel zu oft sehe, ist eine Art Rezeptbuch-Ansatz: Nimm ein bekanntes Märchen, füge Trauma hinzu, packe einen "gefährlichen" Love Interest dazu, fertig ist die Dark Romance.

Das Problem? Trauma wird hier zum Würzmittel degradiert. Es soll der Geschichte Tiefe geben, ohne dass sich jemand die Mühe macht, diese Tiefe auch wirklich auszuloten.

Die verpasste Chance

Nehmen wir die kleine Meerjungfrau. Andersens Original ist bereits düster genug – eine Geschichte über Selbstaufgabe, Schmerz und das Risiko, alles für die Liebe zu opfern. Da steckt so viel drin, was man heute relevant und kraftvoll erzählen könnte. Aber statt diese psychologischen Schichten freizulegen, bekommen wir oft nur die Kulisse.

Eine Meerjungfrau, die ein Jahrzehnt Missbrauch überlebt hat? Das könnte eine unglaublich komplexe Protagonistin werden. Jemand, der mit Trauma umgeht, der Überlebensstrategien entwickelt hat, der lernen muss, wieder zu vertrauen. Aber nein – wir kriegen eine weitere "broken but beautiful" Heldin, deren Vergangenheit hauptsächlich dazu da ist, sie interessant zu machen.

Das Problem mit dem Trauma-als-Plot-Device

Hier liegt für mich der Kern des Problems: Schwere Themen werden nicht mehr als das behandelt, was sie sind – schwerwiegende menschliche Erfahrungen, die Menschen prägen und verändern. Sie werden zu Handlungsgegenständen, zu Plot-Twists, zu Charaktermerkmalen.

Das ist nicht nur schlechtes Storytelling, es ist auch respektlos gegenüber Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben. Wenn ich als Autor Missbrauch, Trauma oder psychische Erkrankungen in meine Geschichte einbaue, dann habe ich die Verantwortung, das ernst zu nehmen.

Was wirklich gute Adaptionen ausmacht

Die besten Märchen-Retellings, die ich gelesen habe, verstehen etwas Grundlegendes: Sie respektieren sowohl das Original als auch die neue Geschichte, die sie erzählen wollen. Sie nehmen sich die Zeit, Charaktere zu entwickeln, die mehr sind als ihre Traumata. Sie fragen nicht nur "Wie kann ich das dunkler machen?", sondern "Was will ich mit dieser Geschichte sagen?"

Der Weg vorwärts

Als Leser können wir mehr verlangen. Wir müssen nicht jeden Trend mitmachen, nur weil er gerade angesagt ist. Wenn ein Buch schwere Themen anspricht, dürfen wir erwarten, dass es das mit der nötigen Sorgfalt tut.

Als Autoren sollten wir uns fragen: Warum erzähle ich diese Geschichte? Was will ich damit aussagen? Und bin ich bereit, die harte Arbeit zu machen, die nötig ist, um komplexe Themen wirklich zu durchdringen?

Märchen sind mächtige Geschichten. Sie haben Jahrhunderte überlebt, weil sie universelle menschliche Wahrheiten ansprechen. Wenn wir sie neu erzählen, sollten wir ihnen – und unseren Lesern – die Ehre erweisen, die sie verdienen.

Was denkt ihr? Habt ihr auch das Gefühl, dass viele aktuelle "dark" Adaptionen ihre Chancen verspielen? Welche Märchen-Retellings haben euch wirklich überzeugt und warum?

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