Die Meerjungfrauen von Aberdeen: Wenn Routine zur Falle wird

Nach zehn Bänden kennt man Ben Aaronovitch ziemlich gut. Man weiß, was einen erwartet: Peter Grant stolpert über etwas Mysteriöses, die Lage eskaliert, und am Ende ist halb London (oder in diesem Fall Schottland) voller magischer Polizisten und Verwandter. Das Rezept funktioniert seit Jahren – aber funktioniert es auch noch?

Aberdeen statt London – frischer Wind oder alter Wein?

Der Schauplatzwechsel nach Schottland tut der Reihe gut. Aberdeen mit seiner rauen Küste und dem typisch schottischen Charme bietet eine willkommene Abwechslung zur vertrauten Londoner Kulisse. Aaronovitch nutzt die Gelegenheit, um Peters Familie in vollem Umfang zu mobilisieren – Beverley, die Zwillinge, Cousin Abigail und natürlich die Füchsin Indigo. Was als entspannter Familienurlaub beginnt, wird schnell zur gewohnten magischen Ermittlung.

Das Problem: Diese Vertrautheit wird zunehmend zur Belastung. Wo früher jeder neue Fall Überraschungen bereithielt, fühlt sich "Die Meerjungfrauen von Aberdeen" stellenweise wie Routine an. Aaronovitch folgt seiner eigenen Formel so genau, dass man als Leser schon drei Kapitel vorher weiß, wohin die Reise geht.

Indigo – der heimliche Star des Buches

Was diesmal wirklich funktioniert, ist Indigo. Die Füchsin bringt eine völlig andere Energie in die Geschichte. Ihre Kommunikation mit den schottischen Füchsen hat eine fast mythische Qualität, die dem sonst sehr technisch-urbanen Peter Grant-Universum eine neue Dimension verleiht. Diese Szenen gehören zu den stärksten des ganzen Buches.

Auch Abigail entwickelt sich weiter zu einer eigenständigen Figur. Ihre Großkatzenjagd funktioniert nicht nur als eigenständiger Handlungsstrang, sondern zeigt auch, wie geschickt Aaronovitch jüngere Charaktere etablieren kann, ohne sie zu sehr zu verniedlichen.

Das Figurenproblem: Zu viel des Guten

Hier stoßen wir aber auf das zentrale Problem der Reihe: Aaronovitch hat mittlerweile so viele Figuren etabliert, dass er kaum noch alle sinnvoll unterbringen kann. Wer nicht mindestens die letzten fünf Bände gelesen hat, ist hoffnungslos verloren. Ständig tauchen Wesen auf, deren Bedeutung und Hintergrund stillschweigend vorausgesetzt werden.

Das war früher anders. Die ersten Bände der Reihe lebten von ihrer Zugänglichkeit – man konnte problemlos einsteigen und wurde sanft in Peters Welt eingeführt. Heute braucht man praktisch einen Studienabschluss in Peter-Grant-Lore, um allen Referenzen zu folgen.

Strukturelle Schwächen: Zwei Geschichten auf der Suche nach einer Handlung

Der größte handwerkliche Fehler liegt aber in der Struktur. Aaronovitch erzählt im Grunde zwei separate Geschichten: Peters Mordermittlungen und Abigails Abenteuer. Das wäre nicht schlimm, wenn beide Stränge organisch miteinander verwoben wären. Stattdessen laufen sie viel zu lange parallel, und man spürt förmlich, wie der Autor versucht, sie am Ende zusammenzubringen.

Als Lektor würde ich hier rigoros eingreifen. Entweder man konzentriert sich auf einen Handlungsstrang und baut den anderen als Subplot ein, oder man sorgt von Anfang an für echte Verbindungen zwischen beiden Erzähllinien. Diese erzwungene Zusammenführung am Ende wirkt konstruiert und schwächt beide Geschichten.

Was bleibt: Solide Unterhaltung mit Potenzial nach oben

Trotz aller Kritik – wer Peter Grant mag, wird auch hier unterhalten. Aaronovitchs Humor funktioniert nach wie vor, die Dialoge sitzen, und die Mischung aus Polizeiarbeit und Magie hat nichts von ihrem Reiz verloren. Aberdeen als Schauplatz bringt tatsächlich frischen Wind, und einzelne Szenen (besonders die mit Indigo) gehören zum Besten, was die Reihe zu bieten hat.

Das Problem ist nur: Nach zehn Bänden darf man mehr erwarten als solide Unterhaltung. Aaronovitch ist ein zu guter Autor, um sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Die Reihe braucht neuen Mut – den Mut, liebgewonnene Figuren auch mal wegzulassen, den Mut zu strafferen Strukturen, den Mut zu echten Überraschungen.

Fazit: Ein Zwischenschritt

"Die Meerjungfrauen von Aberdeen" ist weder ein Höhepunkt noch ein Tiefpunkt der Reihe. Es ist ein solider Zwischenschritt, der zeigt, dass Aaronovitch sein Handwerk versteht, aber auch, dass er sich nicht vor größeren Veränderungen scheuen sollte.

Für neue Leser ist das Buch definitiv nicht geeignet – startet mit "Die Flüsse von London". Für Fans der Reihe ist es ein unterhaltsamer Ausflug nach Schottland, der aber das Gefühl hinterlässt, dass da mehr drin gewesen wäre.

3,5 von 5 Sternen – mit der Hoffnung auf mehr Mut in Band elf.

Was ist euer Lieblings-Peter-Grant-Band? Und seht ihr das Figurenproblem genauso kritisch wie ich? Schreibt es in die Kommentare!

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