Warum wir schlechte Bücher zu Ende lesen (und was das über uns verrät)
Kennst du das Gefühl, wenn du auf Seite 50 eines Buches merkst, dass du die nächsten 200 Seiten schon kennst, bevor du sie gelesen hast? Und trotzdem weiterliest?
Mir ist das letzte Woche mit "Bloodshed Academy" passiert. Eine Werwolf-Vampir-Schule voller perfekt aussehender Charaktere und einer Protagonistin, die zwischen "ist mir egal" und Teenager-Unsicherheit pendelt. Jedes Klischee im Buch, trotzdem hab ich's beendet.
Warum tun wir uns das an?
Das Komfort-Paradox
Manchmal wollen wir gar keine Überraschungen. Manchmal ist vorhersehbar genau das, was wir brauchen. Nach einem anstrengenden Tag will ich nicht noch beim Lesen Gehirnakrobatik betreiben. Ich will in eine Welt eintauchen, die funktioniert, auch wenn sie nicht innovativ ist.
Klischees sind Klischees geworden, weil sie funktionieren. Der mysteriöse Vampir, die Schule als abgeschlossene Welt, die besondere Protagonistin - das sind Muster, die unser Gehirn sofort versteht. Wir müssen keine Energie darauf verschwenden, die Regeln zu verstehen. Wir können uns zurücklehnen und genießen.
Handwerk vs. Innovation
Hier wird's interessant: "Bloodshed Academy" ist handwerklich solide. Die Autorin kann schreiben. Sie versteht Pacing, Dialog, Charakterentwicklung. Nur die Prämisse ist ausgelutscht.
Und das bringt mich zu einer unbequemen Wahrheit: Gutes Handwerk kann mittelmäßige Ideen retten. Schlechtes Handwerk ruiniert brillante Ideen. Lieber eine vorhersehbare Geschichte, die gut erzählt ist, als eine innovative Geschichte, die schlecht umgesetzt wird.
Als Lektor sehe ich das ständig. Autoren, die denken, eine geniale Idee reicht. Spoiler: Tut sie nicht. Die Ausführung entscheidet, nicht die Originalität der Prämisse.
Der "Semi-gute erste Band"-Effekt
Hier kommt eine weitere unbequeme Wahrheit: Manchmal muss man durch mittelmäßige erste Bände, um zu den guten Geschichten zu kommen. Erste Bände sind oft Weltenbau-Schlepperei. Charaktere müssen eingeführt, Regeln erklärt, Konflikte aufgebaut werden.
Serien wie "Harry Potter" oder "The Magicians" haben schwächere erste Bände. Warum? Weil erste Bände arbeiten müssen. Sie legen Fundamente. Erst ab Band 2 oder 3 können Autoren mit diesen Fundamenten spielen.
Das Problem: Als Leser haben wir keine Geduld mehr. Wir wollen sofort brilliert werden. Aber manchmal lohnt sich das Warten.
Die Psychologie des Beendens
Warum lesen wir Bücher zu Ende, die uns nicht begeistern? Drei Gründe:
Hoffnung auf Besserung. Vielleicht wird's ja noch gut. Manchmal stimmt das sogar.
Sunk Cost Fallacy. Ich hab schon 100 Seiten gelesen, ich kann jetzt nicht aufhören. (Kannst du doch.)
Bestätigung. Manchmal wollen wir recht behalten. "Ich wusste es, langweilig bis zum Ende."
Was das über uns als Leser verrät
Dass wir vorhersehbare Bücher lesen, macht uns nicht zu schlechten Lesern. Es macht uns zu menschlichen Lesern. Wir brauchen manchmal literarisches Comfort Food. Nicht jedes Buch muss unser Weltbild erschüttern.
Die Frage ist: Sind wir ehrlich zu uns selbst? Lesen wir "Bloodshed Academy" und gestehen uns ein, dass es Unterhaltung ist? Oder reden wir uns ein, es wäre großartige Literatur?
Der Wert der Mittelmäßigkeit
Mittelmäßige Bücher haben ihren Platz. Sie halten die Lesegewohnheit am Leben zwischen den großartigen Büchern. Sie entspannen. Sie lassen uns merken, was wir an guten Büchern schätzen.
Und manchmal - nur manchmal - überraschen sie uns doch. Band 2 von "Bloodshed Academy" liegt nicht auf meinem Nachttisch. Aber ich schließe nicht aus, dass ich irgendwann reinschaue. Manchmal braucht es einen semi-guten ersten Band, um richtig gut zu werden.
Die Moral von der Geschicht
Es ist okay, schlechte Bücher zu lesen. Es ist okay, sie zu Ende zu lesen. Es ist sogar okay, sie zu mögen. Solange du weißt, warum du sie liest.
Literatur ist nicht nur Hochkultur. Manchmal ist sie auch warme Milch mit Honig für die Seele. Und das ist völlig in Ordnung.
Welches Buch hast du zuletzt gegen besseres Wissen zu Ende gelesen? Und warum? Erzähl es mir in den Kommentaren - ohne schlechtes Gewissen.