Warum ich trotzdem weiterlese: Gedanken zu "Eine Porzellanmanufaktur in Scherben"
Über die Kunst des Anfangens, historische Recherche und die Frage, was einen guten ersten Band ausmacht
Manchmal beginne ich ein Buch mit der Erwartung, enttäuscht zu werden. Bei Familiensagas bin ich besonders vorsichtig geworden – zu oft sind mir schon kitschige Landschaftsbeschreibungen und heldenhaft-perfekte Protagonistinnen begegnet. Als ich "Eine Porzellanmanufaktur in Scherben" aufschlug, war ich also gewappnet.
Aber dann passierte etwas Interessantes: Das Buch hat mich überrascht. Nicht durchweg positiv, aber auf eine Art, die mich zum Nachdenken gebracht hat – über Geschichtsschreibung, über weibliche Figuren in der Literatur und über die Herausforderungen, die erste Band einer Trilogie zu schreiben.
Wenn Recherche zur Bürde wird
Als jemand, der selbst schreibt und lektoriert, erkenne ich das Problem sofort: Die Autorin hat offensichtlich monatelang recherchiert. Sie weiß alles über Porzellanherstellung, über den Schwarzmarkt der Nachkriegszeit, über die amerikanische Besatzung. Das Problem? Sie kann nicht loslassen.
Es gibt diese Passagen, in denen man förmlich spürt, wie die Autorin denkt: "Aber ich habe doch so viel herausgefunden über die Kaolin-Beschaffung, das muss rein!" Das Ergebnis sind Absätze, die sich anfühlen wie Wikipedia-Artikel in Romanform. Eine klassische Anfängerfalle, die aber auch etablierte Autoren immer wieder erwischt.
Marie, die Protagonistin, muss manchmal als Vehikel für diese Informationen herhalten. Plötzlich denkt sie in völlig unnatürlicher Weise über historische Zusammenhänge nach, nur damit der Leser erfährt, wie schwierig die Materialbeschaffung 1947 war.
Die Sache mit den starken Frauen
Was mich interessiert hat: Marie ist keine Instagram-taugliche "strong female character". Sie zweifelt, sie macht Fehler, sie wird unterschätzt und fühlt sich oft überfordert. Das finde ich erfrischend. Zu oft begegnen mir in historischen Romanen Frauen, die anachronistisch emanzipiert sind – als hätte es den Feminismus der 1960er schon 1947 gegeben.
Aber dann passiert etwas Merkwürdiges: Immer wenn Marie zu menschlich, zu verletzlich wird, korrigiert die Autorin das schnell mit einer Szene, in der Marie plötzlich sehr durchsetzungsstark und weise ist. Als hätte sie Angst, ihre Protagonistin könnte schwach wirken. Das ist schade, denn gerade die Unsicherheit macht Marie authentisch.
Der erste Band als Versprechen
Hier kommen wir zum Kern des Problems: Ein Trilogie-Auftakt muss vieles gleichzeitig leisten. Er muss eine in sich geschlossene Geschichte erzählen, aber auch Lust auf mehr machen. Er muss Figuren etablieren, aber nicht alles verraten. Er muss ein Universum aufbauen, ohne sich darin zu verlieren.
"Eine Porzellanmanufaktur in Scherben" kämpft mit all diesen Herausforderungen. Manchmal gewinnt das Buch, manchmal verliert es. Die Liebesgeschichte mit John McNarney zum Beispiel funktioniert, weil sie nicht zu perfekt ist. Die Unsicherheit der Zeit spiegelt sich in ihrer Beziehung wider. Das Ende wirkt aber konstruiert – man spürt die Mechanik des "Cliffhangers für Band zwei".
Warum ich trotzdem weiterlese
Und trotzdem: Ich werde Band zwei lesen. Nicht weil das Buch perfekt ist, sondern weil es mich neugierig gemacht hat. Die Autorin hat ein Gespür für Atmosphäre, sie kann die Zerrissenheit der Nachkriegszeit einfangen. Wenn sie lernt, ihrer eigenen Geschichte zu vertrauen und weniger zu erklären, könnte daraus etwas Besonderes werden.
Als Lektor sehe ich das Potenzial – und die Baustellen. Als Leser bin ich bereit, der Geschichte eine zweite Chance zu geben. Manchmal ist das alles, was ein erster Band leisten muss: uns dazu zu bringen, dass wir den zweiten aufschlagen.
Und mal ehrlich: In einer Zeit, in der viele historische Romane sich anfühlen wie Hochglanzmagazine über die Vergangenheit, ist ein Buch, das sich traut, das Deutschland von 1947 als das zu zeigen, was es war – chaotisch, verzweifelt, voller Menschen, die einfach nur überleben wollten – schon ein kleiner Gewinn.
Was sind eure Erfahrungen mit Trilogie-Auftakten? Verzeiht ihr einem ersten Band mehr Schwächen, wenn er ein interessantes Universum aufbaut? Schreibt mir gerne in die Kommentare.